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Ausgewählter Beitrag
Für Ulrich
Ich war vorhin noch einmal wie vor Jahren
Im Zoo, um nach dem alten Bär‘n zu seh‘n,
Für den wir sowas wie Verwandte waren,
Die auf der bess‘ren Gitterseite steh‘n.
Der Zoo hat ein Wildentenpaar erworben,
Ein selt‘nes Exemplar vom Ijsselmeer
Und unser Bär ist vor‘gen Herbst gestorben.
Der alte Bär ist tot, und sein Käfig leer.
Weißt du noch, ich nahm deine Aktenmappe
Voll trock‘nem Brot, dann kauftest du
Importhonig in einem Topf aus Pappe.
Da taucht‘ ich Weißbrot ein und warf‘s ihm zu.
ich hätt‘ ihm wohl auch Honig pur gegeben,
Doch mochte er vielleicht zuckerkrank sein,
Dann brächt‘ ihn das am Ende noch ums Leben.
Und daran wollten wir nicht schuldig sein.
Er war so kurzsichtig, wie wir zusammen,
Sein Fell von Zeit und Motten ramponiert,
Von Schwanz und Schnauze übersät mit Schrammen
Und allem, was den alten Bären ziert.
Wir hätten ihn gern bei uns aufgenommen,
Doch früher oder später hätten wir
Ganz sicher mit den Nachbarn Krach bekommen:
Ein Bär im Haus, zusätzlich zum Klavier.
Vom Eintrittsgeld zum Zoologischen Garten
Könnte man ein Raubtierhaus finanzier‘n.
Und mit unseren gesamten Eintrittskarten
Könnt‘ ich glatt uns‘re Wohnung tapezier‘n.
An Bechern zähl‘ ich, wie oft wir dort waren,
Und bald hat er uns schon wiedererkannt,
Vielleicht an deinem Kleid, an meinen Haaren,
Vielleicht am Honigtopf in meiner Hand.
Wohl manchen Becher hat er leergefressen,
Und deine Aktentasche klebt noch heut‘.
Und ohne ihn deswegen zu vergessen,
Haben wir ihn nicht mehr besucht bis heut‘.
Uns ist irgendwas dazwischengekommen,
Und plötzlich fanden wir nicht mehr die Zeit,
Oder wir haben sie uns nicht genommen,
Nun hoff‘ ich nur, daß er uns das verzeiht.
Wie lange wartete er wohl vergebens
Auf seinen Honig und unsern Besuch.
Mit ihm endet ein Abschnitt uns‘res Lebens
Und ein Kapitel in unserem Buch.
Den alten Burschen derart zu vergrämen,
Zu zeigen, daß es keine Treue gibt.
Ich glaube, ich sollte mich etwas schämen
Und hab‘ verdient, daß man mich nicht mehr liebt.
Jetzt ist‘s zu spät, um Tränen zu vergießen,
Der Bär ist längst im Bärenparadies,
Wo Milch und wo vor allem Honig fließen,
Erlöst von Gittern und seinem Verließ.
Doch wenn für tote Bären Glocken läuten,
Dann soll‘n von allen Türmen rings umher
Eine Stunde lang alle Glocken läuten.
Der alte Bär ist tot und sein Käfig leer.
Text und Melodie: Reinhard Mey
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